Von Kartoffelrosen und brennenden Baumkronen
On potato-roses and burning treetops

Wir haben Berlin recht Hals über Kopf verlassen, da wir den Lockdown auf keinen Fall in der Wohnung ohne Balkon verbringen wollten und sowieso nicht wussten, was noch alles kommen würde. Mich machte die Enge und Menschenfülle etwas nervös und ich sehnte mich nach meiner Heimat, meiner Familie, Geborgenheit, Altbekanntem und frischer Luft zum Atmen.
Jetzt sind wir auf einer Insel und Wim spielt mit den Vorhängen meiner Großmutter.
Annemie Martin, 22.03.2020

In meinem Traum bin ich mit meinem Freund aus dem Fenster gestiegen, über eine Leiter, mein Ex-Freund stand unten und sah uns zu. Ich musste zum Arzt und sollte über einen Flur zum Behandlungszimmer laufen, auf dem lauter Krankenbetten mit Corona-Patient*innen standen, ich konnte gar nicht durchkommen. Es waren viele junge Frauen mit Beatmungsgeräten.
Jana Kießer, 23.03.2020

Haben wir den gelben Knopf schon gedrückt? Meine Oma ist 89 und schwer herzkrank. Ein Familienmitglied ist immer da, hilft ihr und unterstützt sie bei ihrem Tagesablauf. Am Arm trägt sie schon seit Jahren den sogenannten Knopf. Wenn was wäre, könnte sie den drücken. Manchmal kommt sie aus Versehen drauf oder eines ihrer unzähligen Enkel- oder Urenkelkinder drückt drauf. Dann meldet sich eine Stimme des Roten Kreuzes über eine Anlage, die im Flur hängt. Nicht zu überhören. Morgens und abends muss sie den gelben Knopf dieser Anlage drücken. Jemand drückt ihn, eine Roboterstimme ertönt: „Sicherheitsuhr zurückgestellt“ und macht ein Kreuzchen in ihrem selbstgezeichneten Plan, dass man ihn gedrückt hat. Damit man nicht doppelt drückt oder gar nicht. Alles hat System hier. Als mein Opa noch lebte, hatten die beiden mal vergessen zu drücken. Dann kamen die Sanitäter*innen vorbei und haben nachts nach dem Rechten geschaut. Davon haben die beiden aber gar nichts mitbekommen. Vermutlich hatten sie ihre Hörgeräte rausgenommen.
Annemie Martin, 23.03.2020

Ich bin gerne allein. Ich werde immer ruhiger und lockere meine ständige Anspannung.
Ich denke häufiger: “Das kann ich auch morgen machen.” Weil ich weiß, ich werde mindestens drei Wochen Zeit haben, bis wir wieder arbeiten können. Wahrscheinlich länger.
Jana Kießer, 24.03.2020

Es gibt hier einen Hobbyraum. Der heißt schon immer so. Das ist ein Raum mit allen möglichen Werkzeugen, Geräten und Dingen, die man mal so brauchte oder noch braucht. Bei manchen Geräten weiß ich nicht einmal, wofür sie gedacht sind. Viele sind auch mit Benzin betrieben. Man könnte also auch ganz ohne Strom den Rasen mähen oder das Auto kärchern. Es gibt hier wirklich alles und dieses alles ist auch noch gut sortiert.
Natürlich wusste ich von diesem Hobbyraum, als ich noch in Berlin auf die Idee kam, alle Regalbretter der Wohnung, und das sind nicht wenige, einfach abzubauen und mitzunehmen um sie hier alle weiß zu lackieren. Ich hatte auf einmal das Bedürfnis, dass sie alle weiß sein sollten. Ich verbringe also gerade viel Zeit im Hobbyraum.
Irgendwann wurden wir dann noch gebeten, wenn wir schon mal dabei sind, das Kreuz meines Opas mal zu überarbeiten: abschleifen und frisch lackieren. Also holten wir es vom Friedhof und begannen unsere Arbeit. Den Lack für das Holz bekamen wir von meinem Bruder aus der Bootswerft, wo ich aufwuchs. Und so roch der Lack auch: lecker und nach meiner Kindheit. Für meinen Opa war der See und das Segeln eines der wichtigsten Dinge in seinem Leben und irgendwie sieht das Kreuz auf dem Kopf auch aus wie ein kleines Bötchen. Und das muss schließlich auch immer frisch lackiert werden. Eigentlich sollte man es so herum auf sein Grab stellen. Das hätte ihm bestimmt auch gefallen.
Annemie Martin, 25.03.2020

Wir haben jetzt Masken. Noch benutzen wir die aber gar nicht, denn seit wir hier mit meiner Oma leben, gehen wir gar nicht mehr in die Öffentlichkeit. Meine Mutter erledigt alles für uns und kauft ein. Die Einkäufe stellt sie dann vor die Türe und kommt, wenn überhaupt, nur mit Maske rein. Da freue ich mich immer, denn so langsam fehlen mir die Menschen. Tim hat die Maske jedenfalls schon mal getestet und für ganz ok befunden. Ich beobachte ihn durch das Gitter und denke mir: Wir sind hier zwar etwas gefangen, aber es ist ja nur ein Fliegengitter. Hauptsache meine Oma bekommt das nicht.
Annemie Martin, 25.03.2020

Ich bin alleine Zuhause. Ich sitze in der Küche in der Sonne, das tut gut. Man darf jetzt nur noch zu zweit nach draußen gehen. Gestern war ich gar nicht draußen, aber heute treffe ich mich mit Anna im Park. Spaziergang mit Sicherheitsabstand.
Jana Kießer, 26.03.2020

Als wir hier ankamen war es irgendwie noch Winter. Windig und grau. Nach und nach wurde es dann aber punktuell farbiger. Dieser Baum war einer der ersten, der den Frühling einläutete. Wofür die Konstruktion daneben gedacht ist, hatte ich mich dann auch gefragt. So singulär steht sie da. Mein Opa hatte immer irgendwelche praktischen Konstruktionen ausgetüftelt und gebaut. Es hieß dann nur: „Das ist ein Patent von Opa.“
Annemie Martin, 26.03.2020

Um eine bestimmte Uhrzeit blendet es meine Oma immer. Sie ist sehr empfindlich auf helles Licht, da ihr grüner Star immer mehr voranschreitet. Dann müssen erstmal die Rollläden richtig eingestellt werden und ihre Brille verdunkelt sich automatisch. Sonnenlicht erachtet sie jedoch trotzdem als sehr wichtig. Daher setzt sie sich fast täglich für 20 Minuten mit Sonnenbrille vor ihre Solarlampe.
Die Uferseite, die man hier sieht, ist übrigens die Schweiz. Immer wieder gibt es diese Reflexionen, als sende uns jemand Lichtzeichen. Irgendwie bedrückend, jetzt wo die Grenzen dicht sind.
Annemie Martin, 29.03.2020
Ich habe geträumt, dass ich auf einer Brücke stand, in irgendeinem anderen Land. Es war sehr warm und die Sonne hat alles hell erleuchtet. Ich war mit einem Pärchen dort, die einen kleinen Hund dabei hatten. Von der Brücke hatte man eine tolle Aussicht. Weiter weg erschien ein riesiges Gebäude, das in der Luft schwebte. Es war gigantisch, ich hatte sowas noch nie gesehen! Es war gelb, strahlte in der Sonne, schwebte in der Luft und bewegte sich wie eine Schlange. Irgendjemand erklärte uns, was dort produziert wird. Das Monstergebäude saugte auch Dinge aus der Luft auf. Es war sehr bedrohlich, aber auch eine riesige Attraktion. Viele Menschen beobachteten es von der Brücke aus. Auf einmal schwebte der kleine Hund in der Luft. Dadurch wurde die Dimension des Gebäudes noch klarer. Ich versuchte ein Video mit meinem Handy zu machen, dann wachte ich auf.
Jana Kießer, 31.03.2020

Ich verbringe viel Zeit auf dem Boden. Seit ich ein kleines Kind habe, hat sich mein Leben mehr und mehr auf den Boden verlagert. Ich finde das eigentlich ganz angenehm. Sitze und liege hier gut, fühle mich wohl. Früher habe ich selbst ganz gerne auf dem Boden gechillt und auch geschlafen. Wim und ich hängen meistens irgendwo in der Nähe meiner Oma ab, damit sie von ihrem Sessel aus auch was erlebt. Er fährt auch total auf sie ab und sucht die Kommunikation mit ihr. Momentan wachsen seine Haare senkrecht nach oben. Wie ein Igel mit samtweichen Stacheln.
Annemie Martin, 01.04.2020

Schreibtisch aufgeräumt. Hörbuch "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten" von Alice Hasters gehört. Mit Bahar telefoniert. Ein Gedicht von Hāfez in mein Tagebuch geschrieben. Dinge aussortiert und zum Verschenken in den Hausflur gestellt.
Ich habe mit einer Freundin Themenwochen gestartet, wir schauen Dokus, hören Podcasts und lesen Bücher. Diese Woche beschäftigen wir uns mit Rassismus. Durch Alice Hasters Buch habe ich verstanden, dass wir alle in rassistischen Mustern denken, weil wir in einer rassistischen Gesellschaft sozialisiert wurden. Ich glaube, erst wenn wir uns das eingestehen, können wir an uns selbst arbeiten und aktiv zur dringend nötigen Veränderung beitragen.
Jana Kießer, 02.04.2020

Ich habe von meinem Exfreund geträumt. Wir waren in einer komischen Wohnung, die Wände waren gelb. Die Wohnung war irgendwie ein Labyrinth und ich war immer wieder in einem anderen Zimmer, aber bin aus der Wohnung nie richtig rausgekommen.
Jana Kießer, 03.04.2020

Das Haus hier liegt nicht direkt an der Straße, daher kommt hier keine Müllabfuhr vorbei. Ganz wichtig ist daher der Müllkalender der Gemeinde. Den muss man immer im Blick haben um zu wissen, wann man welche Mülltonne hoch an die Straße bringen muss.
Nach der Biomüll-Leerung klebten noch Dinge am Boden der Tonne. Irgendwie störte mich das, obwohl es einem ja eigentlich egal sein kann, was am Boden einer Mülltonne klebt. Ich versuchte sie also mit dieser Mistgabel zu lösen.
Als Antwort auf dein Stilleben gefiel mir die Mistgabel gleich gut. Als würdest du deine Obstschalen schwungvoll auf den Kompost werfen.
Annemie Martin, 05.04.2020

Ich denke gerade viel über die Vergangenheit nach. Heute habe ich beim Aussortieren eine alte Kiste mit Briefen gefunden. Darin war ein Brief von Opi, er hatte mir Fotos und einen Beschreibungstext zu der Rose "Jayne Austin" geschickt, die er für mich im Garten gepflanzt hat.
Jana Kießer, 05.04.2020

Irgendwann kommt der Punkt, an dem man Rasen mähen sollte. Wir haben ihn sehr lange herausgezögert und auch meiner Oma gefällt die Blumenwiese. Den Bienen und Insekten bestimmt auch. Wie mein Opa früher, haben auch wir dieses Mal einzelne Blumenfelder stehen gelassen. Irgendwie romantisch.
Annemie Martin, 06.04.2020

Abends höre ich einen lauten Streit im Haus. Ich weiß aber nicht genau, woher der Streit kommt. Es bedrückt mich, zu wissen, dass es jetzt, wo alle Zuhause bleiben, mehr häusliche Gewalt gibt und die Betroffenen dieser ausgeliefert sind.
Jana Kießer, 07.04.2020

Mein Opa und seine Brüder erfanden hier nach dem Zweiten Weltkrieg einen Räucherkasten. Er erzählte immer, dass sie mit den Öfen auf dem Gepäckträger ihrer Fahrräder dann umherfuhren und sie vorstellten oder montierten. So weit ich mich erinnere fing es mit Fisch an, aber später wurde auch Fleisch und Wurst geräuchert. Die besten Landjäger hatte immer die Metzgerei Dummel hier auf der Reichenau. Die hingen dann immer hier im Haus, damit sie nachhärteten, denn dann schmecken sie am besten. Letztens bin ich mal zu dem Metzger gefahren und merkte, dass es ihn gar nicht mehr gibt.
Annemie Martin, 09.04.2020

Ich mache einen Abendspaziergang mit einer Freundin. Wir laufen durch Kreuzberg. Es sind fast nur Männer auf der Straße. Ein alter Mann raunt uns etwas Unverständliches zu, glotzt uns lüstern an, hält sich nicht an den Mindestabstand. Ich begleite meine Freundin zur U-Bahn am Kotti, ich will nicht, dass sie alleine geht. Wir trennen uns. Mein Bus soll eigentlich gleich kommen, hat aber Verspätung. Die Wartezeit ist total unangenehm. Ich halte Ausschau nach dem Bus. "Hallo!" kommt plötzlich von rechts und ich drehe mich erschreckt um. Ich erschrecke mich immer total schnell. Auch er kommt näher als 1,5 Meter. Ich überlege, was ich tun soll. Ich kucke ihn mit starrem Blick an. Ich habe keine Lust mit ihm zu reden. Er versucht es auf Englisch. Ich kucke ihn an und sage einfach gar nichts. Eigentlich würde ich gerne so viel sagen: Ob er sich vielleicht vorstellen kann, dass es unangenehm ist, als Frau nachts auf der Straße angequatscht zu werden? Ob er das in Zukunft einfach lassen kann!? Ich bin innerlich sehr wütend, habe aber keine Lust, mich mit jemandem zu streiten. Ich will einfach in Ruhe gelassen werden. Ich will einfach nur nach Hause gehen. Sicher. Ist das zu viel verlangt? Ich glaube nicht! Auf der anderen Straßenseite läuft ein junger Typ mit Musikbox vorbei und singt mit: "Hare Krishna, hare krishna!" Ich laufe zur nächsten Bushaltestelle, 200 Meter entfernt. Zwei Typen warten an einem Imbiss. Sie starren mich an. Die Haltestelle ist ein paar Meter von ihnen entfernt. Ich stelle mich hinter das Schild um mich vor ihren Blicken zu schützen. Sie essen ihren Döner auf der anderen Straßenseite und glotzen von dort weiter. Endlich kommt der Bus.
Ich rede öfter mit Männern aus meinem Bekanntenkreis über meine Erfahrungen mit Sexismus. Für die meisten sind solche Schilderungen nicht nachvollziehbar, sie reagieren total erstaunt, weil sie Sexismus einfach nicht erleben.
Jana Kießer, 10.04.2020

Vater und Sohn, die mich so oft mit genau denselben Augen anschauen. Groß, blau und wach. Jetzt beobachten sie aber gerade die Lichtbrechungen und lassen sich von mir und meiner Kamera nicht stören.
Annemie Martin, 11.04.2020

Dein starkes Selbstportrait beeindruckte mich sehr. Ich überlegte und dachte mir: Irgendwie gut, sich mal zu zeigen, sich mal vorzustellen. Also wartete ich auf gutes Licht und verbrachte mal etwas Zeit vor der Kamera.
Annemie Martin, 14.04.2020

In meinem Traum heute Nacht habe ich eine wunderschöne Landschaft im Frühling gesehen. Ich habe immer wieder Bäume gesehen, deren Baumkronen brannten. Sie fingen auf einmal an zu brennen als wir vorbeifuhren, wie in einem Videospiel. Martin, ein Freund meiner Familie war dabei. Er meinte, diese Brände wären ganz normal.
Jana Kießer, 15.04.2020

Meine Oma schaukelt sehr gerne. Vielleicht sogar lieber als so manches Kind. Mir wird und wurde immer schnell schwindelig. Sie wollte unbedingt eine Schaukel im Garten und da meinte mein Opa: „Warten wir ab bis das erste Enkelkind kommt, dann wird der Vater ganz sicher eine Schaukel bauen.” 1978 kam meine älteste Schwester Britta zur Welt und mein Vater baute eine sehr massive, wunderschöne Schaukel hier in den Garten. Ein Riesenteil aus Holzpfählen, so wie sie auch in seinem Hafen stehen und an welchen die Leute ihre Schiffe anbinden. Ursprünglich alte Telegraphenmasten, die zu der Zeit wohl nach und nach abgerissen wurden. Nach all den Jahren war die Schaukel auch so schön zugewuchert und es summte und brummte, wenn man sich ihr näherte. Schon lange diente sie eigentlich nur noch als Schattenspender und Insektenbehausung, da der obere Querbalken sehr morsch ist.
Heute ist der 16. April 2020 und meine Oma liegt seit gut zwei Wochen im Krankenhaus. Sie hat sich den Oberschenkelhalsknochen gebrochen. Wenn sie wieder nach Hause kommt, muss sie wahrscheinlich viel Zeit in ihrem Bett verbringen. Da soll ihr der Blick auf den See nicht durch eine morsche Schaukel verwehrt bleiben. Diese ist nun dem Abriss geweiht. Irgendwie hänge ich an der Schaukel, so wie ich an vielem hänge, was verschwinden könnte oder schon verschwunden ist. Doch dieses Argument überzeugte mich, denn sie soll unbedingt den See sehen können. Wir rissen die Schaukel also ab, die mein Vater vor 43 Jahren erbaute.
Annemie Martin, 16.04.2020

Wir sind im Park nahe der Wohnung meines Freundes spazieren. Heute sind mehr Menschen dort als sonst. Wir treffen ein Pärchen, das er kennt. Wir unterhalten uns darüber, welche Parks am schönsten sind und wer wo schon Füchse und Fuchsbabies gesehen hat. Ich denke: "Das ist doch absurd. Vier Erwachsene treffen sich im Park und reden darüber, wo man Füchse sehen kann. Vor Corona wäre die Unterhaltung sicher komplett anders verlaufen." Als ein großer Polizeiwagen auf uns zukommt, verabschieden wir uns.
Jana Kießer, 17.04.2020

Der obere Stock des Hauses wird kaum mehr benutzt. Früher noch von meinen Großeltern, aber seit die Treppen zum Hindernis wurden, spielt sich das meiste ebenerdig ab. Die Rollläden werden hier demnach auch nicht regelmäßig bewegt und ich denke es hat sich eine Wespengroßfamilie in einem der Rollädenkästen eingenistet. Ab und zu begegnet man nämlich einer und ich frage mich immer, wie die hier reinkommen.
Das Motiv gefiel mir gleich gut als Antwort auf dein Bild, denn in dem Baum könnten sie auch wohnen.
Annemie Martin, 18.04.2020

Durch das geöffnete Küchenfenster klingt eine Blockflöte und ich freue mich, dass ich musikalische Nachbar*innen habe. Der laute Alltag ist verstummt, keine rumpelnden Palettenlieferungen im Hinterhof, keine quatschenden Start-up Mitarbeitenden, die sich in Gruppen zum Mittagessen verabredet haben — dafür Vogelgezwitscher. Ich glaube, es singt eine Amsel.
Jana Kießer, 19.04.2020

Meine Oma sieht nicht mehr gut und vor allem das Lesen fällt ihr schwer. Das macht mich sehr traurig, denn das war eine ihrer Haupt- und Lieblingsbeschäftigungen. Diese Lupe hilft ihr etwas.
Annemie Martin, 20.04.2020

Ich denke gerade "Ach schade, ich habe noch gar kein Bild gefunden heute", als ich dieses Geschirr-Ensemble bei einem Abendspaziergang entdecke. Ich muss sofort an Alice im Wunderland denken.
Jana Kießer, 21.04.2020

Meine Mutter kam zum Rosen schneiden, da meine Oma das nicht mehr machen kann, aber ein ganz tolles Rosenbeet vor ihrem Fenster hat. Im Internet hatte sie gelesen, dass man Rosenstecklinge in Kartoffeln stecken könne und sich dann tolle Wurzeln bilden. Daraus wurden Kartoffelrosen.
Annemie Martin, 22.04.2020

Am 31. März 2020 gehen wir, wie fast jeden Tag, für 30 Minuten spazieren und lassen meine Oma alleine. Das ist völlig ok so und sie verspricht wie immer nichts anzustellen in der Zeit. Sie sagt zum Abschied „Grüß mir die Reichenau“. Seit langem kann sie die Reichenau selbst schon nicht mehr erkunden und ich versuche sie von ihr zu grüßen. Als wir zurückkommen wundern wir uns schon von außen, warum sie nicht auf ihrem Stuhl sitzt. Wir öffnen die Terassentüre und da sitzt sie auf dem Boden und sagt: „Hier bin ich. Ich bin gestürzt.“
Heute ist der 19. April und sie ist immer noch nicht zurück zuhause. Auf dem Spaziergang machte ich das Bild von dieser Leiter in einem Gewächshaus. Es steht stellvertretend für ihren Sturz, der alles veränderte.
Die Leiter erinnert mich auch an meinen Opa, der bis ins hohe Alter immer noch auf seine Leitern gestiegen ist und Obst von den Bäumen gepflückt hat. Gestürzt ist er nie. Und doch war das Stürzen immer die größte Angst.
Annemie Martin, 25.04.2020
Heute rasiere ich den Undercut meines Freundes nach. Er kann seit Wochen nicht zum Friseur, also biete ich an, die Haare nachzuschneiden. Ich glaube es kostet ihn etwas Überwindung, mir seine Frisur anzuvertrauen. Ich bin angespannt, weil ich Angst habe, ihn zu schneiden oder zu viel abzurasieren. Am Ende ist er aber sehr zufrieden und ich megastolz auf meinen ersten Haarschnitt.
Jana Kießer, 26.04.2020

Früher bekamen wir Enkelkinder, und wir sind wirklich viele, um die 20, immer die orangenen Gläser. Schön bunt und robust. Heute bekommt meine Oma immer ein orangenes Glas, da sie die Durchsichtigen gerne mal übersieht und umkippt.
Annemie Martin, 27.04.2020

Seit Tagen regnet es und ist wieder kälter. Gut für die Natur auf jeden Fall. Wim ist inzwischen sehr mobil und nimmt das gesamte Wohnungsinventar auseinander. Am Anfang der Corona-Zeit war das noch anders. Jetzt ist ein Innehalten wie auf dem Bild ein rarer Moment geworden.
Annemie Martin, 29.04.2020

Ich merke, generell fehlen mir gar nicht so viele Dinge. Aber ich würde gerne mit meinen Freund*innen tanzen! Einfach ausgelassen tanzen. Am liebsten unter freiem Himmel.
Jana Kießer, 30.04.2020

Irgendwie bin ich pausenlos beschäftigt. Die Dinge machen mir Spaß und doch bin ich heute etwas erledigt. Für einen kurzen Moment lege ich mich auf das Sofa und strecke mich aus. An der Zimmerdecke sehe ich diese Lichtzeichnung, die sich ständig verändert. Ich beobachte sie kurz andächtig, aber dann springe ich auf, denn ich brauche meine Kamera.
Annemie Martin, 01.05.2020

Am Kanal merkt man fast nichts mehr von der Krise. Flanierende Menschen, spazierende Eltern mit Kindern, Business-Smalltalk... fühlt sich fast wieder normal an. Komisch, dass es so schnell geht. Ich brauche ein bisschen Zeit, um mich wieder an das eilige und menschengefüllte Leben zu gewöhnen. Will ich aber eigentlich gar nicht.
Jana Kießer, 02.05.2020

Eigentlich wollten wir nur die Terrasse kärchern. Dabei hoben wir eine wackelnde Platte und entdeckten eine riesige Wurzel von einem bereits gefällten Baum. Wir fingen an ihren Verlauf zu verfolgen und bald waren fast alle Terrassenplatten gehoben. Sie erstreckte sich über mindestens zehn Meter und verästelte in verschiedene Richtungen.
Jahrzehnte lang fröhnte sie ihr Dasein unter der Terrasse auf welcher sich viel Leben abspielte. Jetzt liegt sie hier in der Wiese, viel zu schön um entsorgt zu werden. Deshalb verstecke ich sie hinter dem Gartenhäuschen. Vielleicht kann man sie ja nochmal gebrauchen.
Annemie Martin, 03.05.2020

Ich habe geträumt, dass ich heiraten musste. Ich war in der Kirche, hatte das Kleid an. Es hat mir nicht ganz gepasst, war zu kurz. Ich bin irgendwie für jemanden eingesprungen. Der Pfarrer erklärte mir ganz kurz, was ich tun muss; ich habe es aber nicht verstanden. Es war alles sehr angespannt und komisch. Ich hatte das Gefühl, ich muss das jetzt tun, weil ich damit jemandem einen Gefallen tue. Aber eigentlich wollte ich es nicht, und wusste auch, dass es eine verbindliche Sache ist, aus der man nicht so leicht wieder rauskommt.
Jana Kießer, 04.05.2020

Am Rand des Gartens stand früher immer ein riesiger Essigbaum. Er wuchs so, dass man darin richtig gut herumklettern konnte und ich fühlte mich immer als sei ich in einem Schiff aus Blättern. Irgendwann war er dann einfach weg. Doch er hat ein paar Nachfahren hinterlassen. Dieser ist einen von ihnen.
Annemie Martin, 05.05.2020

Ich vermisse Familie und Freundinnen. Mein Telefon zeigt mir Rückblicke an: "Zusammen im Laufe der Jahre", "1. Mai 2019". Ein Foto mit meinen Großeltern. "An diesem Tag 07.05.2018" — da hatte ich die Schwäne im Kanal fotografiert. Und: "Das Beste der letzten zwei Monate“. Können Smartphones eigentlich schon Ironie?
Jana Kießer, 07.05.2020

So langsam freue ich mich schon wieder auf Berlin und bald treten wir auch die Heimreise an. Der Garten hier wird mir sehr fehlen. Pflanzen gießen und dabei zusehen wie sie sich fast täglich verändern wurde zu meiner neuen Meditation. Jeden Morgen wenn es nicht geregnet hat, schalte ich erstmal den Rasensprenger an und renne dann schnell vom Wasserhahn weg, damit er mich nicht erwischt.
Der Wasserhahn kommt aus einem kleinen ganz alten Häuschen, das auf dem Nebengrundstück steht. Das sogenannte Pumpenhäusle. Jedes Jahr im Frühjahr muss man bei der Insel Genossenschaft anrufen, damit sie den Wasserhahn freischalten und pures Seewasser aus ihm raussprudeln kann. Irgendwie ein schöner Kreislauf, denke ich. Denn so wie ich das verstehe, fließt das Wasser mit dem man auf der Insel gießt, schlussendlich ja wieder in den See zurück.
Annemie Martin, 08.05.2020

Viele Männer halten sich nicht an den Mindestabstand. Es war schon vor Corona so, dass mir Männer auf der Straße seltenst ausweichen, sondern von mir erwarten, dass ich ihnen aus dem Weg gehe. Aber ich finde es echt krass, dass sie sogar während einer Pandemie, in der jede Person, die einem näher als 1,5 Meter kommt, eine Gefahr darstellt, nicht einmal aus Selbstschutz ausweichen! Geschweige denn um andere zu schützen.
Jana Kießer, 10.05.2020

Ich habe geträumt, dass Bahar und ich Viorel, den neugeborenen Sohn eines befreundeten Paares, zum ersten Mal gesehen haben. Bei einem Video Call, wir waren draußen unterwegs. Zwei Frauen kamen uns entgegen, sie trugen beide die gleichen wunderschönen violetten Gewänder. Ich wollte sie fotografieren, aber habe mich nicht getraut. Dann kam noch eine dritte Frau dazu, die auch das gleiche anhatte. Danach haben wir an einer Bushaltestelle in einem dunklen Wartehäuschen aus Holz mit anderen Personen gewartet. Aber irgendwie waren da zu viele Menschen und wir sind gegangen.
Jana Kießer, 12.05.2020

Der Neffe meiner Oma kommt hier regelmäßig vorbei und fährt mit der Gundel zum Fischen. Wenn der Fang gut war, gibt er uns ein paar Fische ab. Er nimmt sie dann hier in der Küche aus und filetiert sie. Dafür hat er extra ein scharfes Messer ganz oben in einem Schrank versteckt. Dass wir direkt vom See kommen und sowas nicht können, verwundert ihn jedes mal.
Für mich war es schon eine Überwindung die Reste so zu arrangieren. Meine Schwester übt seitdem jedoch fleißig. Sie hatte als Kind auch immer mal wieder mit meinem Bruder gefischt. Meistens hatte er die Angel und sie musste den Fisch dann ausnehmen. Aus Protest warf sie ihm das pochende Fischherz dann immer auf den nackten Rücken.
Annemie Martin, 13.05.2020

Ich bin mit Bahar in einem Klamottenladen in Mitte. Mit Maske. In der Umkleide kommen wir mit zwei Frauen ins Gespräch. Ich glaube wir sind alle froh, wieder ein Stückchen Normalität zu haben, wieder ein bisschen mehr rauszugehen. Eine der beiden probiert das gleiche Outfit an wie ich. Sie überrascht mich: "Das steht dir viel besser! Du hast die Haare dafür. Ich nicht." Klingt nach Hollywoodfilm.
Solche Aussagen habe ich lange nicht gehört. Seit meine Freundinnen und ich uns abgewöhnt haben, schlecht über uns selbst zu sprechen und mit anderen Frauen zu vergleichen. Seit wir versuchen, das frauenverachtende Verhalten zu verlernen, dass uns die Werbung, Magazine und Filme eingebläut haben. Andere Frauen sind nicht meine Konkurrentinnen! Vielleicht auch seitdem mir mein Aussehen nicht mehr so wichtig ist, wie früher. Wenn mir etwas gefällt, trage ich es. Ich brauche einen Moment, um das einzuordnen. In solchen Situationen merke ich, wie weit ich schon gekommen bin. Dafür bin ich dankbar.
Jana Kießer, 14.05.2020

Ich habe schon Jahre nicht mehr durch eine Rolle geschaut und freue mich darüber, wie viel Spaß das macht. Als Kind habe ich mit den Papierrollen gerne das andere Ufer beobachtet. Heute reichen mir die Margeriten, die hier wild wachsen.
Annemie Martin, 15.05.2020

Ich frage per SMS bei einer offenen Töpferwerkstatt nach, ob momentan trotz Corona geöffnet ist, was mit Ja beantwortet wird. Ich frage, ob man eine Maske tragen müsse und bekomme als Antwort: “ja... ohne Maske aber Begrüßung nur mit Küsschen genervt kuckendes Emoji” Abends kann ich nicht einschlafen, weil ich mich über diese Nachricht ärgere, die ich auf keinen Fall unbeantwortet stehen lassen kann. Ich schreibe mir mögliche Antworten auf und schlafe ein. Am nächsten Morgen rede ich mit meiner Schwester darüber, ob ich ihm einfach nur ein Scheißhaufen-Emoji schicken oder ihm einen Einlauf verpassen soll. Ich frage auch noch eine Freundin und bespreche schließlich mit einer weiteren Freundin, die mich zufällig anruft, was die passende Antwort sein könnte. Ich ärgere mich, wie viel Zeit meine Freundinnen und ich dafür verwenden, während der Typ sich wahrscheinlich keine Sekunde Gedanken darüber macht. "Dann lieber mit Maske! Töpfern ohne Sexismus wäre schön! genervt kuckendes Emoji wird schließlich zur perfekten Antwort auserwählt. Ich bin glücklich und fühle mich gut, weil ich mich wehren konnte. Zurück kommt nur noch ein trauriges und ein lachendes Emoji – bedeutet wohl Verwirrung am anderen Ende.
Jana Kießer, 16.05.2020

Meine Oma versteht sich blendend mit Wim. Wenn er bei ihr auf dem Schoß sitzt wäre es natürlich gut, wenn er etwas zur Ruhe käme, weil sie sein Herumgehampel gar nicht halten könnte. Irgendwie merkt er das und verhält sich anders, als wenn er bei agileren Menschen sitzt.
Sie sagt ganz oft zu ihm: „Dir geht’s gut! Weißt du das eigentlich?“ Bezogen ist das vermutlich auf vieles, nehme ich immer an. Dass alle ihn betüdeln; dass er so viel darf; wenn er schreit, ist immer wer da; dass er noch so klein ist und das ganze Leben und die wundersame Welt noch vor ihm liegen.
Annemie Martin, 17.05.2020

Jetzt regnet es leicht und es ist wunderbar mild draußen. Ich rauche eine Zigarette am Fenster.
Unten läuft ein Pärchen in Schlangenlinien vorbei — gut gekleidet, leicht angetrunken, rauchend — wie in einer Filmszene. Ich denke an unbeschwerte Sommernächte.
Jana Kießer, 18.05.2020

Heute gehen wir das erste Mal nicht auf der Reichenau, sondern am Mindelsee spazieren und treffen meine Cousine mit ihrer Familie. Normalerweise ist man dort fast alleine, aber heute sind auf einmal wahnsinnig viele Menschen dort unterwegs. Meine Cousine ärgert sich etwas über die Fülle an Menschen, aber ich finde es irgendwie ganz schön mal wieder so vielen Leuten zu begegnen. Fühlt sich an als seien wir alle frei gelassen worden. Aus unseren privilegierten Selbstisolationen.
Annemie Martin, 19.05.2020

Zum Abschied haben wir uns umarmt.
Wir haben es sowieso den ganzen Tag über leider nicht geschafft, den Mindestabstand einzuhalten.
Also haben wir beschlossen, dass wir uns umarmen dürfen. Es war so schön! Das war die erste Umarmung mit einer Freundin seit bestimmt zwei Monaten.
Jana Kießer, 20.05.2020

Als Kind wurden meine kleinen Blumenbouquets - meistens Gänseblümchen und Gras-, die ich im Garten zusammenstellte, immer in diese extra kleinen, dafür vorgesehenen Vasen gemacht. Davon gibt es eine ganze Sammlung. Ich erinnere mich, dass diese kleinen Sträußchen in diesen kleinen Gefäßen hier und dort das Interieur schmückten.
Annemie Martin, 21.05.2020

Ich habe geträumt, dass ich bei einem ehemaligen Arbeitskollegen zu Hause war. Die Sonne strahlte golden durch die Fenster in seine Wohnung. Die weißen Gardinen wehten wunderschön im Wind. Sie bewegten sich so langsam und seidig, wie ein Tanz.
Jana Kießer, 22.05.2020

Meine Oma ist eine Meisternäherin. All ihre Handarbeiten sind perfekt und sehen aus wie gekauft. Ich habe früher ganz oft einfach nur ihre Hände dabei beobachtet wie sie flink und filigran agierten. Ein Tanz zwischen Körper und Material.
Annemie Martin, 23.05.2020

Schon seit Tagen laufe ich an diesem Rhabarber vorbei und denke mir, dass ich ihn verwerten sollte bevor es zu spät ist. Ich backe einen Kuchen und meine Mutter nimmt ein Stückchen mit ins Krankenhaus für meine Oma. Jeden Tag bangt sie, ob sie rein darf zu ihr. Auch meine Oma bangt und beobachtet den ganzen Tag die Türe; drückt die Daumen, dass meine Mutter sie besuchen darf. Oft hatten die beiden Glück und es klappte. Das aber nur aufgrund eines Einzelzimmers und persönlichen Kontakten. Den meisten Menschen wird der Besuch im Krankenhaus verwehrt. Und das in einer Zeit in der man ihn doch so sehr braucht um zu genesen.
Als sie wieder zuhause ist von ihrem Krankenhausaufenthalt, erzählt sie mir, dass ihre Mutter schon diesen Rhabarber angepflanzt habe. Genau an dieser Stelle und ohne größere Pflege, kommt er jedes Jahr wieder. Meine Oma fühlt sich wie neugeboren seitdem sie wieder zuhause ist, voller Euphorie und Tatendrang, mit ihren 89 Jahren wieder auf die Füße zu kommen.
Annemie Martin, 26.5.2020

Meine Schwestern sind zu Besuch in Berlin. Wir leben in unterschiedlichen Städten. Alle paar Monate sehen wir uns. Dann ist alles wie immer. Wir können uns aufeinander verlassen und werden in der Bahn gefragt, ob wir eine Theatergruppe sind. Wir besuchen Verwandte und unsere kleine Cousine stellt in bestimmtem Ton fest: "Ihr seid aber ganz schöne Kichererbsen!"
Jana Kießer, 02.06.2020

Meine Schwester befand sich über einen Monat in einem wahnsinnig strikten Lockdown in Kapstadt. Nicht zu vergleichen mit dem hier. Sie saß fest und wartete darauf bis sie ausgeflogen werden konnte. Spaziergänge waren dort nicht erlaubt, einkaufen nur alleine, Militär und Checkpoints auf den Straßen. Als es darum ging wo sie ihre Quarantänezeit verbringt, hatten wir die Idee, dass sie doch auch ins Haus meiner Großmutter kommen solle. Das war sehr schön. Hier war genug Platz, um ausreichend Abstand zu halten. Zumindest für die erste Zeit. Wim verstand ihr Zurückweichen um Abstand zu wahren wie ein Fangen Spiel und verfolgte sie überall hin. Ich war einfach froh, dass sie endlich zurück und bei uns war.
Annemie Martin, 12.06.2020
Auf meinem Nachhauseweg fällt mir eine Hummel auf dem Gehweg unter den Linden auf. Ich schiebe sie vorsichtig auf die Postkarte, die ich für meine Mutter gekauft habe und lege sie auf einen Busch. Ich gehe weiter und sehe die nächste Hummel auf dem Boden liegen. Auch sie lege ich auf einen Busch. Sie bewegen ihre Beinchen, aber scheinen nicht mehr fliegen zu können. Ich wundere mich. Ich laufe weiter und sehe mehrere tote Bienen auf dem Boden liegen. Zuhause liegt eine Biene auf dem Fußboden in meinem Zimmer. Auch sie bewegt die Beinchen und sonst nichts. Ich lege sie aufs Fensterbrett und hole Zuckerwasser auf einem Teelöffel. Sie trinkt es langsam, ich lasse sie alleine. Als ich zurückkomme, ist sie weg. Ich fühle mich wie damals als Kind, als ich alle Tiere retten wollte.
Jana Kießer, 21.06.2020

Nach gut sechs Monaten fahren wir mal wieder an die Ostsee zu Tim’s Familie. Wir haben sie das letzte Mal im Januar gesehen und Wim war damals noch ein anderer Mensch - ein kleines Baby, das sich grade mal drehen und den Kopf heben konnte. Tims Opa ist 93 und läuft einmal am Tag mit seinem Rollator in den Supermarkt um eine Kleinigkeit zu kaufen. So hält er sich fit und Corona macht ihm keine Angst. Ich laufe immer einmal durch seinen Garten, dieses Mal mit Wim. Wir entdecken diese einsame weiße Mohnblume in seinem Gewächshaus. Bisher kannte ich nur die Roten.
Annemie Martin, 28.06.2020
Ich habe geträumt, dass ein gelber Marienkäfer unter mein Oberteil geflogen ist. Er krabbelte unter dem engen Shirt auf meinem Bauch entlang. Es war sehr unangenehm, ihn auf meiner Haut zu spüren, ich konnte ihn aber nicht entfernen, sonst hätte ich ihn töten müssen.
Jana Kießer, 14.07.2020

Wim ist nun schon fast ein Jahr alt und nicht zu bremsen. Alles wird erkundet, erklommen und die ersten Satzmelodien fallen.
Immer wieder schweifen meine Gedanken gerade jetzt zu der gleichen Zeit vor einem Jahr und ich denke daran wie es war hochschwanger zu sein, zu warten und dann war es soweit und Wim kam auf die Welt. Wie sehr man in dem Moment war, ihn stundenlang einfach nur beobachtete und gefesselt war von der Magie eines Babys. Es wird mir immer bewusster wie verrückt Babys eigentlich sind und wie schnell bestimmte Abschnitte des ersten Jahres vergehen und dann nie mehr zurückkommen.
Bisher fühlte sich das Leben seit Ende Mai wieder relativ normal an und nicht als würden wir in einer Zeit der Pandemie leben. Vor ein paar Tagen berichtete das RKI jedoch wieder von schnell steigenden Infektionszahlen und warnte vor einer zweiten Welle. Diese Informationen haben sich gleich wieder festgesetzt in meinem Kopf und ich nahm sie sofort sehr ernst. Relativ zeitgleich erfuhr ich auch von einer Bekannten, die Corona in einem relativ milden Verlauf überstanden hatte, jedoch weiterhin an Geruchsverlusten und Kopfschmerzen leidet. Es ist die erste Person in meinem Bekanntenkreis, die an Covid 19 erkrankte und ihre anhaltenden Symptome gruseln mich.
Annemie Martin, 03.08.2020
Mein kleiner Bruder ist zu Besuch. Am letzten Abend mache ich noch ein Portrait von ihm, ich fotografiere ihn eigentlich immer, wenn wir uns sehen. Unsere Beziehung war lange schwierig und durch die gemeinsamen Portraits habe ich das Gefühl, wir empfinden beide einen Moment der Annäherung, der Übereinstimmung. Dieses Mal sehe ich ihn durch die Linse an und beobachte sein schönes Gesicht. Wie es sich verändert hat. Seine Nase ist schmal geworden. Er schaut tief in meine Linse und es schüttelt mich innerlich. Dieser Moment ist so pur und ich spüre unsere Verbindung einen Moment lang ganz intensiv.
Jana Kießer, 26.08.2020

Dieses Jahr bin ich 30 geworden und habe meinen Geburtstag in kleinem Kreise und unter freiem Himmel hier am Bodensee gefeiert. Es war wunderbar und ich war sehr gerührt über die weiten Anreisewege meiner engsten Freunde.
Annemie Martin, 05.09.2020
Ich bin für einen Fotojob in Frankreich und bleibe danach noch ein paar Tage in Marseille. Marseille wurde als Risikogebiet eingestuft. Man muss die Maske jetzt sogar auf der Straße tragen. Ich wohne bei Freundinnen eines Bekannten, wir wollen zum Strand. Ich will vorher noch duschen, um meine Beine zu rasieren, mein Bekannter will schnell los. "Ach komm!!! Das musst du doch nicht machen! Ich verstehe überhaupt nicht, warum Frauen sich rasieren!", fährt er mich laut an. Ich entgegne ihm: "Ich würde mir auch lieber keine Gedanken darüber machen, aber leider bin ich in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Frauen sich enthaaren sollen um akzeptiert zu werden. So wurde ich sozialisiert und das kann ich nicht auf einmal rückgängig machen. Das braucht Zeit. Ich wünschte, ich könnte einfach mit behaarten Beinen und Rock rumlaufen, aber so weit bin ich noch nicht." Wenn ich meine Antwort lese, finde ich, sie klingt wie aus einem Buch. Ja, ich habe gelesen, um so antworten zu können. In den letzten Tagen hatten der Bekannte und ich mehrere Auseinandersetzungen. Ich habe keine Lust mehr, mit den anderen zum Strand zu gehen. Ich bleibe zuhause und genieße die Ruhe. Alleinsein hat mir gefehlt. Ich dusche und rasiere meine Beine. Aus Versehen schneide ich mich. Im Bad liegt ein zerbrochener Spiegel. Ich hole meine Kamera und inszeniere dieses Bild. Dass mein Körper kommentiert und beurteilt wird, ist unerträglich und übergriffig. Der vermeintlich gut gemeinte Kommentar, dass er nicht verstehe, warum Frauen sich überhaupt rasieren, ist genauso sexistisch, wie wenn er meine Stoppeln an den Beinen kritisiert hätte. Du hast fremde Körper nicht zu kommentieren, es ist nicht dein Recht! Ich habe meine Gefühle und Gedanken in eine Fotografie verwandelt. Meine Kamera hilft mir, zu verarbeiten. Sie beruhigt mich, sie ist mein Ausdrucksmedium, sie verbindet mich mit meiner Umgebung, sie hilft mir, zu verstehen.
Jana Kießer, 12.09.2020

Seit gut zwei Monaten sind wir am Bodensee und übernehmen hier den Betreuungsengpass bei meiner Oma. Es ist schön, aber so langsam zieht es uns sehnsüchtig in unser eigenes Leben zurück. Wir fahren ins Veneto, wo ich für meine Masterarbeit fotografiere. Der Ort in dem wir wohnen ist eine Geisterstadt und die Wohnung sehr kalt und ungemütlich, da man nur mit der Klimaanlage heizen kann. Wir sind die Einzigen in dem gesamten Gebäude. Der Herr, der uns die Schlüssel gibt, spricht sehr gut deutsch und erzählt mir, dass Trump alles regeln würde und die Chinesen für Corona bezahlen würden. Sie hätten diesen Virus im Labor hergestellt. Ich winke ab und meine nur, dass da die Meinungen auseinandergehen. Nach acht Stunden Autofahrt mit Kleinkind fehlt mir die Kraft für jegliche Diskussionen.
Mit den Leuten auf der Straße in Kontakt zu kommen ist sehr schwierig. Jede*r trägt eine Maske im öffentlichen Raum, hält viel Abstand und möchte eigentlich überhaupt nicht mit einem sprechen. Auch ich habe Hemmungen den Leuten näherzukommen und fühle mich wie ein verrückter Eindringling, der in diesen Zeiten reist.
An dem Ort auf dem Bild ist eine Sekunde vor der Aufnahme noch ein Reh gehüpft. Leider war ich zu langsam.
Schon vor unserer kleinen Reise stiegen die Zahlen rasant an und wir überlegten uns mehrere Tage, ob wir überhaupt fahren sollten. Eigentlich wollten wir unsere Rückreise am 24.10. antreten, doch wir verließen diesen unwirtlichen Ort schon drei Tage früher und fuhren nach Hause. Wären wir wie geplant gefahren, hätten wir 14 Tage in Quarantäne gemusst, da wir aus Italien und der Schweiz kamen, die beide zum Risikogebiet deklariert wurden.
Alles ist durcheinander, liegt kreuz und quer, ganz anders als früher.
Annemie Martin, 18.10.2020
Mir ist in den letzten Wochen klar geworden, dass wir auf den nächsten Lockdown zurasen. Im Sommer habe ich mich oft so befreit gefühlt, vieles war wieder möglich. Eine Prise Leben, die Freiheit gerochen. Jetzt kommen die Einschränkungen zurück. Berlin ist Risikogebiet. Ich telefoniere lange mit einem Freund und besinne mich. Die Entschleunigung im Frühjahr hat mir gut getan. Das wird auch wieder so sein, falls es zu einem zweiten Lockdown kommt.
Jana Kießer, 20.10.2020

Wir sind wieder zurück in Berlin, zurück in der Großstadt. Umgeben von unseren eigenen Sachen. Am liebsten würde ich alle meine Freunde treffen, die ich so lange nicht mehr gesehen habe, aber wir stehen kurz vor dem zweiten Lockdown und sollten uns nun besser zurückhalten. Wir beschränken uns auf einen kleinen Personenkreis, den wir in Innenräumen treffen und verabreden uns mit allen anderen unter freiem Himmel. Jeden Tag ein neuer Spaziergang, ich war gefühlt noch nie so viel an der frischen Luft.
Bis auf dass alle gefühlt ihre Masken aufrüsten zur FFP2 Version, ist Corona irgendwie gar nicht so präsent. Und doch fröstelt es mich ab und zu beim Gedanken und dann teste ich immer gleich meinen Geruchssinn.
Die Geschwindigkeit des Alltags bleibt bei diesem Lockdown die Gleiche.
Annemie Martin, 30.10.2020
In den letzten Tagen denke ich viel über die aktuellen Geschehnisse nach. Die US-Wahl, die Terroranschläge in Wien und Kabul, der Mord an einem 13-Jährigen in Berlin, das Abtreibungsverbot in Polen, täglich steigende Corona Infektionszahlen, der zweite Lockdown. Ich sitze hier jeden Abend am Fenster und telefoniere mit Freund*innen — vielen geht es gerade nicht so gut.
Jana Kießer, 06.11.2020

Für einen Fotoauftrag war ich in Pödelwitz bei Leipzig. Pödelwitz ist ein Dorf, das eigentlich umgesiedelt werden sollte für den Kohleabbau. Doch diejenigen, die bleiben wollten, hatten es geschafft die Abbaggerung zu stoppen. Nur steht das Dorf, welches mich mit seiner Schönheit und Verwunschenheit total überraschte, zu 80% leer. Die leeren Häuser gehören jedoch der MIBRAG und können bisher noch nicht wieder neu bewohnt werden. Sie zerfallen und eine Security fährt regelmäßig durch das Dorf und schaut, dass es zu keinen Plünderungen oder Besetzungen kommt. So weit so absurd. Es gäbe nämlich sehr viele Menschen, die liebend gerne dieses Dorf beleben und bewohnen würden.
Auf meinem Weg dorthin bin ich direkt an dem Braunkohlekraftwerk Lippendorf vorbeigefahren und es schauderte mich. Es gab bisher wenige Momente in denen ich das Unbehagen des Klimawandel so direkt und körperlich spürte. Irgendwie tat das gut und motivierte mich.
Annemie Martin, 28.11.2020
Ich habe heute Nacht von meinem Exfreund geträumt, der mich vor zwei Jahren gestalkt hat. Er kam mir mit seinen Freunden entgegen gelaufen und hat mich erst nicht gesehen. Dann entdeckte er mich und versuchte mit mir zu sprechen. "Jana! Ich will mit dir reden!" rief er sehr energisch und kam mir nahe. Ich schrie laut "NEIN! ICH WILL DAS NICHT!". Ich schrie sehr laut, aber meine Schreie hörten sich nur ganz leise an. Ich drehte mich um und lief eine helle Treppe hinauf, weg von all dem.
Ich ging in Ruhe weiter. Ich gehe in Ruhe weiter.
Ich habe es so satt in Angst zu Leben. Ich habe mich nach diesen zwei Jahren gerade wieder einigermaßen von dem Stalking erholt. Manchmal bekomme ich noch Herzklopfen, wenn es an der Tür klingelt, obwohl ich niemanden erwarte. Ich bin aber immer noch sehr hellhörig und kucke durch den Spion, sobald ich Stimmen im Hausflur höre. Ich habe Angst, nachts allein auf der Straße. Welche Frau hat das nicht? Standard. In der schlimmsten Phase bin ich nachts vor dem Schatten meines Regenschirms auf der Straße erschrocken. Ich werde unruhig und will nicht rangehen, wenn mich eine unbekannte Nummer anruft. Werde nervös, wenn mir Personen schreiben, die ich nicht kenne. Wenn ich auf der Straße vor meinem Fenster laute Geräusche höre. Wenn ich draußen jemandem begegne, der ihm ähnlich sieht, oder der von Weitem er sein könnte. Klingt alles doch nicht so erholt eigentlich.
Ich glaube man kann sich das schwer vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Die Gewalt, die von Stalking ausgeht, ist so schwer greifbar.
Jana Kießer, 29.11.2020

Wir sind über Weihnachten zu meiner Familie an den Bodensee gefahren. Mit gemischten Gefühlen. Wim war bis eben noch in der Kita, wir - wenn auch wenig - in Berlin unterwegs. Wir fahren mit dem Auto. Schön abgeschottet. Tanken dann aber trotzdem in Sachsen, wo die Zahlen explodieren. Am Bodensee erwarteten uns Schnelltests, was mich im ersten Moment total beruhigte. Doch nach den ersten Recherchen über die Tests wurde ich immer unruhiger und vertraute nicht auf das einmalige Testen. Ich träumte, dass ich Corona habe und meine ganze Familie anstecke. Daher testeten wir uns immer und immer wieder. Immer negativ. Meinen Vater, seine Frau und meine Halbschwestern traf ich nur im Freien.
Weihnachten war gemütlich und komisch. Das Leben mit Corona nervt einfach nur noch. Der Lockdown im Frühjahr hatte noch etwas Aufregendes irgendwie. Man wurde aus der Geschwindigkeit und seinem Alltag gerissen. So plötzlich und man wusste nicht wie einem geschah. Jetzt bin ich einfach nur noch müde, es ist dunkel und kalt. Die Weihnachtsdekoration auf dem Foto assoziierte ich sofort mit einem Virus. Einem Virus, der allmählich bekämpft wird, austrocknet und trotzdem noch spitzig ist, piekst, jeden anfallen kann und alles überschattet.
Annemie Martin, 24.12.2020
Der zweite Lockdown fühlt sich ganz anders an als der erste im Frühling. Es ist zwar alles geschlossen — bis auf lebensnotwendige Geschäfte und Buchläden, was ich sehr cool finde! Man steht jetzt Schlange vor Buchläden. Ich war in der letzten Woche mindestens in sechs Buchläden in meinem Kiez um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Es ist gar nicht so einfach ein Buch für Erstleserinnen mit Pferdegeschichten aber ohne problematische Geschlechterrollen zu finden. Und man soll die Kontakte reduzieren, aber alles andere läuft weiter. Aufgaben, Deadlines, Verantwortung. Alles muss funktionieren, aber man hat fast keine Möglichkeiten, alle Gefühle, die sich anstauen, rauszulassen. Das, was man normalerweise bei Treffen mit Freundinnen, beim Feiern, bei Ausflügen, in langen Bar-Nächten, beim Sport, auf Konzerten usw. schafft — Ausgleich. Oder Urlaub (wow, das Wort habe ich lange nicht benutzt!). Und ich gehöre noch zu den privilegierten Personen, ich habe keine Kinder. Ich habe den größten Respekt vor Eltern, die gerade neben Lohn- und Carearbeit gleichzeitig auch noch alle Kinder zuhause betreuen müssen! Im Frühling hatten wir die Hoffnung auf den nahenden Sommer. Jetzt können wir uns nur an die Vorfreude auf den nächsten Sommer klammern, aber der liegt in so weiter Ferne! Und natürlich gibt es die Hoffnung auf den Impfstoff, der zugelassen wurde. Aber bis unsere Altersgruppe mit Impfen drankommt, dauert es noch Monate. Ich will gerade sowieso am liebsten nur zu Hause bleiben. Hoffentlich bleibt das noch eine Weile so. Wenigstens gibt es in Berlin noch keine Ausgangssperre. Verglichen mit vielen anderen Ländern geht es uns sowieso wahnsinnig gut. An Tagen, an denen die Sonne scheint, fühlt sich für mich alles halb so schlimm an.
Jana Kießer, 27.12.2020

Seit ein paar Tagen sind wir zurück in Berlin und das tut auch irgendwie gut, obwohl ich auch noch länger auf dem Land hätte bleiben können. Mein Bedürfnis nach Tapetenwechsel ist gerade größer als sonst. Ich bin müde, habe trotz Lockdown viel zu tun und die Kita ist natürlich zu. Wenn Wim schläft, arbeite ich. Freizeit und Ruhe für mich alleine existiert gerade nicht. Ich verstehe die Maßnahmen und Vernunft und bin gleichzeitig so müde und genervt davon. Jeden Tag finde ich mich neu damit ab.
Eine willkommene Abwechslung war der Porträttermin mit Gina. Es war so schön ausgelassen, unbeschwert, inspirierend und verrückt. Glühwein zum Frühstück und mittags einen kleinen Schuss im Kaffee. Gina und ihre Familie hatten schon Corona, gleich zu Beginn der Pandemie. Woher wissen sie gar nicht, vermutlich aus dem öffentlichen Raum.
Ich kenne jetzt immer mehr Menschen, die erkrankten. Auch eine enge Freundin, die gerade in Ecuador lebt. Da wurde die Sorge auf einmal sehr persönlich.
Annemie Martin, 16.01.2021
Seit Beginn des Winters habe ich meine Beine nicht mehr rasiert. Zum ersten Mal seit ich angefangen habe, sie zu rasieren, sind meine Haare wieder so lang. Ich kann es selbst nicht richtig fassen. Normalerweise kam immer irgendwann der Punkt, an dem ich sie wieder abrasiert habe. Diesmal tue ich es einfach nicht. Es ist wie ein Experiment an mir selbst. Wann halte ich es nicht mehr aus? Falls ich jemanden kennenlerne, werde ich mich rasieren? Fühle ich mich genauso weiblich, wie mit glatt rasierten Beinen? Das sollte ich, es wird uns ja nur von der Werbung und der Gesellschaft eingeredet, dass Frauen sich enthaaren müssen. In einem Familienalbum habe ich ein Foto meiner Urgroßmutter entdeckt, sie streckt die Arme hoch und strahlt in die Kamera, dabei zeigt sie vollkommen selbstbewusst ihre Achselbehaarung. Ich liebe dieses Foto und nehme es mir zum Vorbild! Jetzt kann ich mir noch nicht vorstellen, die Beinbehaarung auch im Sommer zu behalten. Aber vielleicht verändert sich meine Einstellung ja noch.
Jana Kießer, 24.01.2021
Ich hatte vor ein paar Tagen Geburtstag. Letztes Jahr habe ich ihn noch unbeschwert und groß gefeiert. Ausgelassen. Das ist so weit weg — und unvorstellbar heute.
In den letzten Monaten habe ich mich sowieso sehr zurückgezogen. Ich finde es schwierig, mit allen Menschen die ich gerne habe, Kontakt zu halten. Ich dachte, es würde mir nichts ausmachen, nur mit meiner Schwester zu feiern. Es ist ja nur dieses Jahr so. Und ich habe Glück, eine Schwester in Berlin zu haben.
Aber am Tag meines Geburtstags war ich doch traurig und habe Familie und Freund*innen sehr vermisst. Meine Schwester hat eine Schnitzeljagd durch den Kiez für mich geplant und in Gedichten immer wieder die nächste Überraschung versteckt. Die Sonne strahlte vom Himmel, wie seit Ewigkeiten nicht mehr und eine gute Freundin kam als Überraschung dazu. Ich war so gerührt, dass ich weinen musste. Es war ein wunderschöner Geburtstag.
Jana Kießer, 15.02.2021

Uns fällt die Wohnungsdecke auf den Kopf. Wir sind müde, ausgelaugt und erschöpft. Wir fahren spontan an die Ostsee zu Tims Familie, um dort einfach nur zu sein. Etwas anderes zu sehen. Es tut unglaublich gut und für einen kurzen Tag scheint alles möglich, alles normal und das Wetter ist mild und frühlingshaft. Wir helfen im Garten voller Bewegungsdrang und kippen diverse Eimer aus, in denen gefrorenes Wasser gerade langsam schmilzt. Tim freut sich und sagt: Guckt mal, Pudding.
Als wir vom Meer wegfahren, werden wir von der Polizei kontrolliert. Süddeutsches Kennzeichen in Mecklenburg-Vorpommern, wo bundesweit am meisten kontrolliert wird. Das ist natürlich auffällig. Wir werden kurz nervös, doch es ist erlaubt, die Kernfamilie zu besuchen. Die Beamt*innen prüfen Ewigkeiten die Daten, die Tim ihnen zu seiner Mutter mitteilt und wir dürfen weiterfahren.
Annemie Martin, 20.02.2021
Ich habe dieses Foto in der Nacht, in der meine geliebte Oma verstarb, aufgenommen. Ihr Tod kam plötzlich und unerwartet. Ich konnte es nicht fassen. Ich habe sie wegen Corona seit August nicht mehr gesehen. Sie war dement und hat die Pandemie immer wieder vergessen. Sie fragte oft: "Wann kommst du denn mal wieder?". Ich hatte solche Angst, dass ich sie anstecken könnte, dass ich sie immer wieder vertröstet habe. Wäre ich nur hingefahren.
In dieser Nacht musste ich einfach raus. Intuitiv lief ich zum Kanal. Dort fand ich die Schwäne an einem großen Eisloch, einige schliefen, einige verständigten sich mit Lauten, die ich noch nie gehört hatte. Der Kreis aus Schwänen unter der Trauerweide, die Geräusche. Das schimmernde Licht im schwarzen Wasser hatte etwas Magisches und ich fühlte, dass meine Oma dieses Bild sehen konnte, dass sie dabei war. Die Szene hätte ihr sehr gut gefallen, da bin ich mir sicher. Sie hat mir beigebracht hinzusehen. Genau hinzusehen. "Kuck mal, der Stein sieht aus wie ein Herz! Den nehmen wir mit!". So sammelten wir Schneckenhäuser, Holz und Steine auf unseren gemeinsamen Spaziergängen. Meine Oma hat mich sehr geprägt, sie war die erste Feministin in meinem Leben. Sie war eine Rebellin. Ich bin dankbar, dass ich ihre Enkelin sein durfte.
Jana Kießer, 25.03.2021

Wir sind wieder am Bodensee. Es passiert eigentlich recht wenig. Gegen Ende unseres Aufenthaltes drehe ich zwei Opern-Musikvideos mit einem befreundeten Pärchen. Es tut so gut produktiv und frei zu sein. Wir fallen hier auf wie Kanarienvögel; durch unsere gute Laune, Davids Gesang, die Kostüme, die Action. Ich habe schon lange nicht mehr so viel gelacht. Ich habe Tränen gelacht. Wieder und wieder, über Tage. Während wir im Garten drehen stehen plötzlich eine Handvoll bewaffnete Polizist*innen vor dem Gartentor und fragen, ob sie reinkommen könnten. Wir willigen ein. Sie halten den Abstand nicht ein und ich gehe automatisch immer ein Stück weiter zurück. Sofort ist mein Gedanke: Haben wir etwas falsch gemacht? Sie suchen eine Feier, haben einen Anruf bekommen, irgendwo werde die Geburt eines Kindes gefeiert. Es ist grotesk und befremdet mich.
An einem anderen Tag schaukle ich mit Wim auf der Terrasse bei meinen Eltern und wir schauen gebannt zu den fröhlichen Kindern im Garten nebenan. Er sehnt sich nach Kindern und stürzt sich sofort auf sie, wenn er welchen begegnet. Die Mutter bemerkt uns, lächelt und sagt: „Wir machen heute etwas Verbotenes. Wir feiern Kindergeburtstag. Letztes Jahr haben wir schon verzichtet. Das ging nicht nochmal.” Dieser Ausspruch halt noch lange in mir nach: Wir machen etwas Verbotenes, wir feiern Kindergeburtstag.
Kann unsere Zeit noch absurder werden?
Annemie Martin, 01.04.2021
Ich glaube wir haben nur eine leise Ahnung, was diese Pandemie mit uns macht. Wir spüren vielleicht, dass Dinge, Beziehungen komisch und schwierig sind. Aber was es wirklich bedeutet — das werden wir erst nach einiger Zeit merken. Was es bedeutet, sich Grundbedürfnisse wie körperliche Nähe zu verbieten. Ich treffe eine Freundin draußen, die ich sehr gern habe. Sie hat Geburtstag und ich würde sie am liebsten anspringen. Nein, ich darf nicht. Ich darf meine Zuneigung nicht körperlich zeigen. Ich muss das Bedürfnis unterdrücken. Das ist für mich eine der schlimmsten Einschränkungen.
Jana Kießer, 07.04.2021

Im Moment passiert viel. Vielleicht wäre es nicht viel hätten wir nicht eine Pandemie Lage. Aber für mich fühlt es sich nach viel an. Meine 90-jährige Oma wurde nun endlich geimpft. Und das von ihrer Hausärztin sowie sie sich das gewünscht hatte. Auch mein Papa als Risikopatient wurde in derselben Woche geimpft, was mich noch mehr erleichterte, da er mehr Kontakt mit Menschen hat und meine beiden jüngeren Schwestern so wieder unbeschwerter in die Schule gehen können.
Tims Mama hatte leider starke Nebenwirkungen von der AstraZeneca Impfung. Blutungen aus den Augen und Ohren. In der Uniklinik, in die sie kam, meinten sie, dass viele mit Nebenwirkungen kämen. Das war ein ziemlicher Schock. Es geht ihr inzwischen wieder gut.
Eine Freundin leidet an Long Covid. Das macht mir große Angst.
Meine Cousine hat Mitte Februar ihr Baby bekommen und wir sehen sie endlich wieder. Ich habe sie sehr vermisst als wir am Bodensee waren. Wim ist ganz ehrfürchtig vor dem kleinen Wesen und weint immer mit, sobald es anfängt zu weinen.
Annemie Martin, 20.04.2021
Mittlerweile kenne ich einige Leute, die schon geimpft wurden. Freundinnen, meine Schwester, meine Mutter — weil sie systemrelevant sind oder Angehörige pflegen. Das gibt mir Hoffnung, dass ich auch bald dran sein könnte. Ab Juni soll die Impfpriorisierung aufgehoben werden. Aber ich gebe zu — ich verspüre schon Neid, wenn ich bei Instagram sehe, wer alles Impfpässe und Pflaster auf dem Arm postet. Ich frage mich immer: "Sind doch so alt wie ich, wir sind doch noch gar nicht dran?!" Aber dann denke ich "Vielleicht sind sie in der Risikogruppe oder systemrelevant oder pflegen Angehörige. Ich gönne es auch allen! Ich freue mich für sie! Ich will niemanden verurteilen, aber ich verspüre trotzdem Neid. Einfach, weil ich auch gerne schon dran wäre. Geimpfte sollen alte Freiheiten zurückbekommen, wie: sich mit mehreren Haushalten treffen dürfen, Reisen ohne Quarantäne, Läden betreten ohne negativen Test. Ist doch klar, dass wir diese Freiheiten alle so schnell wie möglich wollen!
Jana Kießer, 06.05.2021

Ich bin geimpft worden. Es war für mich eine total große Sache, denn ich sehnte diesen Moment so sehr herbei. Wie sehr viele Menschen gerade. Nicht unbedingt wegen der Privilegien. Eher um einfach geschützt zu sein. Ich näherte mich dem Impfzentrum, überall Militär und verschiedene Stationen, die man durchlief. Wie am Fließband. Total surreal. Erinnert mich an dystopische Filme und Serien. Mir ist heiß, ich habe eiskalte Hände, zittere vor Aufregung. Die Leute um mich herum kommen mir irgendwie entspannter vor. Nach der Spritze wartete ich noch 15 Minuten wie empfohlen und lief dann raus. Die Sonne schien, ich konnte nicht mehr aufhören zu grinsen, vergoss Freudentränen. Es fühlte sich an als hätte ich nun das Ticket in die alte Welt. In das alte Leben. Das erste Zeichen von einem Ende dieser pandemischen Zeit. Es fiel auf einmal so viel von ab und ich fühlte mich irgendwie wie befreit.
Annemie Martin, 09.05.2021
