Oberndorf 1
Ganz bestimmt ist dies der letzte Winter in der Höhle, sagt Onkel Eugen hoffnungsvoll zu Elfriede. Er klagt nie, aber die 9jährige Nichte bemerkt dass ihm Stille und Einsamkeit seiner notdürftigen Behausung immer mehr zu schaffen machen. Der Nebel, welcher bei Fliegeralarm ins Neckartal eingelassen wird um die Waffenfabrik vor feindlichen Bombern unsichtbar zu machen, kriecht den Hang beinahe bis zu seinen Füßen hinauf, so dass Eugen glauben muss an einem verwunschenen Ort zu sein. Gegen Mitte des Krieges wurde die Montage zweier 1,5 Kilometer langen Stahlseile veranlasst, welche über das Tal links und rechts die Fabrik flankieren. An beiden Seilen hängen viele kleinere Seile vertikal nach unten, welche nun den Blick des Höhlenbewohners auf die Häuser der gegenüber liegenden Seite wie ein Vorhang versperren. Ein Vorhang aus Eisen, der im Nebel zusätzlich wie eine Schutzwand das Mauserwerk gegen Tiefflieger abschotten soll und dessen unheimlicher Anblick, eine unmenschliche Anstrengung vermuten lässt. Dieser Ort hat wie die Reichshauptstadt den Status kriegsentscheidend. Und wie in der Reichshauptstadt gibt es ebenso viele Spitzel und Hundertprozentige. Jeder Schritt Eugens ausserhalb der Höhle bedeutet Lebensgefahr und will deswegen gut überlegt sein.
Im Sommer lassen sich die Umstände besser ertragen. Wenn er nicht am Höhleneingang dem Gesang der Vögel und den Stimmen des Waldes lauscht, sitzt er über seinen Zeichnungen von Instrumenten und träumt vom Geigenbau. Er kann sich nachts ins Dorf schleichen um von der Schwägerin Esswaren und saubere Kleidung zu bekommen, außerdem Bücher, Stifte und Papier die er benötigt um nicht verrückt zu werden. Dies alles geht jetzt ohne verräterische Spuren im Schnee zu hinterlassen die ihn früher oder später an die Hundertprozentigen ausliefern würden und den Tod der ganzen Familie bedeuteten - so wie es allen Deserteuren und ihren Helfern ergeht.
Eines nachts schleicht Onkel Eugen trotz äußerster Vorsicht direkt in die Hände eines SA-Schergen welcher ihn barsch nach dem Ausweis fragt. Er greift kurz in seine Tasche, holt tief Luft um den einen, sicheren Schlag vorzubereiten der den Polizisten eine Sekunde später zu Boden gehen läßt. Aus Angst vor großangelegten Suchaktionen traut sich Eugen wochenlang nicht aus der Höhle hinaus, ohne zu wissen dass der Schwerbewaffnete den Vorgang (wahrscheinlich aus Stolz) nie melden wird.
Erinnerungen von Elfriede Suhr, Oberndorf
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