Malte Sänger
Ein Europäischer Sommer
A European Summer
It is probably the odors that are anchored most deeply in the networks of thought, in the synaptic switching points of memory. Those molecular knots, ramifications and connections are the stops where the wandering through one' s memory is interrupted and that invite to finally enter the past. Immediately, the light that prevailed on that day, that moment, that second, envelops you in a flash.
One of my most striking early memories is the trip with my father to an old steam locomotive waiting on a disused railroad track above the fields of his home village. At that time - immediately chosen as a gymnastics apparatus - it is today not the overwhelming joy, which I must have felt, to be allowed to operate and climb such a metallic behemoth at close range, but rather the metallic-rusty oil smell, which firmly anchored itself in my memory. Similarly, the late summer sun, which threw the interior of the black-dark-rusty driver's cab into hard shady contrasts.
Fifteen years later, about to start the first stage of my journey home from the glowing southwest of France, this memory was back. Like the Atlantic salmon instinctively ascending into the river of their origin by smell in order to prove their adolescence to spawn - I found myself back in that cab of the old locomotive equipped with cranks, flaps and pipes.
The non-air-conditioned regional trains of the SNCF, which run every half hour, were equally stuffy on their waiting tracks. Only the airstream created on departure was supposed to try to suck the stale air out through the small flap windows of the old cars. So it must have been the summery mixture of a sun that shone brightly throughout the day, old wooden railroad tracks and aging wagons that now exuded this unique and unmistakable odor.
Some fourteen hours later, arriving back at the familiar Frankfurt central station, I could not let go for several days of the fact that this small French train station had managed to cover over a thousand kilometers, connected more than a decade of elapsed lifetime and became as familiar to me as the memory of a light-flooded walk with my father in late summer.
Ein Europäischer Sommer
Es sind wohl die Gerüche, die sich am tiefsten in den Gedankennetzen, den synaptischen Schaltstellen der Erinnerung, verankern. Jene molekularen Verknotungen, Verästelungen und Verknüpfungen sind die Haltestellen, an denen das Wandern durch die Erinnerung jeweils unterbrochen wird und die zum Verweilen und schließlich zum Betreten der Vergangenheit einladen. Unvermittelt umwebt einen in Windeseile das Licht, das an jenem Tage, jenem Moment, jener Sekunde vorherrschte.
So ist eine meiner prägnantesten-, frühen Erinnerungen der Ausflug mit meinem Vater zu einer auf einem stillgelegten Abstellgleis, oberhalb der Felder seines Heimatdorfs, ausharrenden alten Dampflok. Damals-, sofort als Turngerät auserkoren, ist es heute nicht die überwältigende Freude, die ich wohl empfunden haben muss, ein solches metallisches Ungetüm aus nächster Nähe betätigen und beklettern zu dürfen, sondern der metallisch-rostige Ölgeruch, der sich fest in meiner Erinnerung verankerte wie zugleich die tief stehende Spätsommer-Sonne, die das Innere des schwarzdunkel-rostigen Führerhaus in hartschattige Kontraste warf.
Fünfzehn Jahre später, im Begriff, die erste Etappe meines Heimwegs aus dem glühenden Südwesten Frankreichs anzutreten, war diese Erinnerung wieder da. Wie atlantische Lachse, die instinktiv anhand des Geruchsinns zum Beweis ihrer Adoleszenz zum Laichen hinauf in den Fluss ihrer Herkunft steigen, fand ich mich wieder in jenem mit Kurbeln, Klappen und Rohren versehenen Führerhäuschen der alten Lokomotive.
Die im halbstündigen Takt fahrenden und nicht klimatisierten Regionalzüge der SNCF standen ebenso stickig auf ihren Wartegleisen. Erst der bei Abfahrt entstehende Fahrtwind sollte versuchen, die muffige Luft durch die kleinen Klappenfenster der alten Waggons hinaus zu saugen. So muss es wohl jene sommerliche Mischung einer über den Tag hinweg kräftig strahlenden Sonne, alten, noch aus Holz gefertigten Bahnschwellen und in die Jahre gekommener Waggons gewesen sein, die nun diesen einzigartigen und unverkennbaren Duft verströmten.
Vierzehn Stunden später, wieder im vertrauten Frankfurter Hauptbahnhof angekommen, ließ mich für mehrere Tage die Tatsache nicht los, dass es dieser kleine französische Bahnhof geschafft hatte, über tausend Kilometer zu überwinden, mehr als eine Dekade verstrichener Lebenszeit zu verbinden, um mir ebenso vertraut zu werden wie die Erinnerung an einen lichtdurchfluteten Spaziergang mit dem Vater im Spätsommer.
Ein Europäischer Sommer
2020
photobook 23cm x17cm
74 pages / 35 photographs
Coverdesign: Veerle Vervliet
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